Rede des SPD-Fraktionsvorsitzenden Frank-Walter Steinmeier bei der wirtschaftspolitischen Konferenz der SPD am 21. April

Veröffentlicht am 22.04.2010 in Wirtschaftspolitik

Frank-Walter Steinmeier

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Gäste,
liebe Genossinnen und Genossen,

Politik fängt damit an, zu sagen, was ist. Heute haben wir diskutiert, was ist in der deutschen Wirtschaft. Das ist derzeit eine höchst verwirrende Frage. Wie dunkel sind die Wolken der Rezession noch – den Sonderfall der Aschewolke einmal ausgenommen – und wie hell sind die vereinzelten Silberstreifen am Horizont?
Lassen Sie mich versuchen, in Reaktion auf die vielen Beiträge auf der heutigen Konferenz ein einigermaßen realistisches Bild vom Stand der Realwirtschaft am Anfang meiner Rede zu zeichnen. Denn allein davon hängt ab, welches Investitionsverhalten wir von den Unternehmen erwarten können und welche politischen Rahmensetzungen und Steuerungsmaßnahmen jetzt vonnöten sind.

Zunächst stelle ich fest: Es geht uns tatsächlich besser als den allermeisten Flächenländern in Europa – Frankreich, Italien, Spanien, Großbritannien. Aber es ist eine Illusion zu glauben, dass diese Robustheit unserer Volkswirtschaft von selbst schon dauerhaft ist und gewissermaßen vom Himmel fällt. Vier Gründe sind es in meinen Augen, die uns vor dem Schlimmsten bewahrt haben.

Erstens: Wir haben im vergangenen Jahrzehnt erfolgreich für den Erhalt einer breiten industriellen Basis in Deutschland gekämpft – gegen einen globalen Trend und gegen so manche Stimmen im eigenen Land, die allein in Dienstleistungen und Finanzdienstleistungen die Rettung für das verstaubte alte Europa sahen, ein neues Zeitalter ohne Produktion! Wo man diesen Weg in Europa gegangen ist, kann man heute die Folgen besichtigen!

Zweitens: Unsere Unternehmen haben nach der Krise der New Economy am Anfang des letzten Jahrzehnts eine schwierige und schmerzhafte Phase der Konsolidierung und Erneuerung hinter sich gebracht. Sie haben sich mit Erfolg dem neuen globalen Wettbewerb in angestammten Branchen und Märkten gestellt.

Drittens: Wir haben uns auch politisch der Gleichzeitigkeit von schärfstem globalen Wettbewerb und einer rasanten Alterung der Gesellschaft bei uns gestellt. Das war sicherlich nicht weniger schmerzhaft und schwierig. Das wissen wir alle, auch ich, ganz genau! Aber worum es ging war – neben der erfolgreichen Senkung der Arbeitslosigkeit von Höchstwerten über 5 Millionen –nichts anderes als die Stabilisierung und Zukunftssicherung unserer Sozialleistungssysteme. Ohne diese Diskussion, der sich die SPD
ausgesetzt hat, und ohne die damit verbundenen Entscheidungen wären wir anders in diese Krise hineingegangen. Ich sage bewusst: Ohne diese Anpassungen wären wir deutlich schlechter vorbereitet gewesen auf diese Krise und deutlich heftiger von ihr getroffen worden.

Viertens: Wir haben schnell und entschieden auf die Krise reagiert. Wir haben das Schlimmste verhindern können: durch die Stabilisierung der Banken, zu der Peer Steinbrück und ich einen 14-Punkte-Plan vorgelegt haben, um die notwendige Stabilisierung auch mit der notwendigen Regulierung zu verschränken –nicht alles war mit der Union umzusetzen–, durch die Konjunkturprogramme, durch die Verlängerung der Kurzarbeit, durch das kommunale Investitionspaket. Auch all diese Krisenmaßnahmen, gestaltet –
das wissen Sie – an vielen entscheidenden Punkten durch sozialdemokratische Minister, waren geprägt von der Philosophie, um die ich auch persönlich gerungen habe: nämlich industrielle Kapazitäten zu erhalten, in dem Wissen, dass das, was in der Krise wegbricht, auch nach der Krise in Deutschland oder Europa nicht wiederkäme.
Das Ergebnis dieser Maßnahmen ist bekannt – trotz eines massiven Konjunktureinbruchs ist die Arbeitslosigkeit 2009 bei uns nur um 200 000 angestiegen – zum Vergleich dazu haben die USA, trotz geringerer Konjunkturschäden, mehr als 8 Millionen Jobs verloren. Auch in der restlichen Euro-Zone ist die Arbeitslosigkeit mittlerweile auf ein 12-Jahres-Hoch gestiegen – und schon spricht man im Ausland von Deutschlands „Job-Wunder“.
Die kritische Schwelle, an der wir nun stehen, lautet: Stabilisierung ja, aber Aufschwung?
Mein Eindruck ist: Deutschland steckt wirtschaftlich nach wie vor in der Defensive. Die Auftragseingänge lagen im Frühjahr 2010 rund ein Fünftel unter dem Niveau vom Frühjahr 2008. Die Erholung, die wir im vergangenen Sommer beobachtet haben, ist ins Stocken geraten. Im Schlussquartal 2009 stagnierte das reale Bruttoinlandsprodukt. Die Prognosen für 2010 sind gedämpft. Zuletzt hat der Internationale Währungsfonds seine Prognose für 2010 von 1,5% auf 1,2% herunter korrigiert. Die Gefahr der
wirtschaftlichen Stagnation auch über den Tag hinaus ist immanent. Ich sagte vorhin: Mit unseren Konjunkturmaßnahmen haben wir das Schlimmste verhindert. Gut so! Die Kehrseite: Die Hälfte unseres Wachstums kommt 2010 aus eben diesen staatlichen Stützungsmaßnahmen und die laufen aus!

Zusätzlich werden in den Kommunen die Gewerbesteuereinnahmen weiter einbrechen. Das stellt zentrale Investitionsimpulse der regionalen Wirtschaft in Frage. Und die Gewerkschaften geben momentan der Beschäftigungssicherung den Vorrang. Das ist richtig, heißt aber auch, dass von der Lohnpolitik vorerst keine Impulse für eine binnenwirtschaftliche Belebung ausgehen werden.

Neben all diesen Beobachtungen ist für die Frage des Aufschwungs eine Größe entscheidend: der Blick auf Investitionen. Neues, zukunftsfähiges Wachstum erfordert neue Produkte und Technologien, die neue Nachfrage und neuen Absatz generieren. Will heißen: Wir brauchen Investitionen! Wenn wir unsere Exportstärke erneuern und unsere Binnenmärkte beleben wollen, brauchen wir mehr Investitionen in traditionellen Branchen wie in Zukunftsmärkten, in Industrie wie in sozialen Dienstleistungen. Wenn wir neue
Wachstumsfelder erschließen wollen, brauchen wir mehr Investitionen in Forschung und Entwicklung. Wenn wir sicherstellen wollen, dass die Arbeit von morgen auch von jungen Menschen aus Deutschland besetzt werden kann, brauchen wir mehr Investitionen in Bildung und soziale Teilhabe.

Doch gerade hier ist die Lage düster: Die Ausrüstungsinvestitionen in Deutschland sind 2009 mit einem Minus von 20 Prozent erdrutschartig eingebrochen. Auch für 2010 wird nur eine leichte Erholung von 2,8 Prozent prognostiziert. Und gerade Gespräche mit Unternehmern in spezifischen Branchen, gerade der Blick in den Wirtschaftszeitungen hinter die Konjunkturumfragen zu den Unternehmensdaten beunruhigt mich: Da sind Autohersteller, die richten ihren Blick bei der Entwicklung der Elektromobilität nach
Asien. Da ist die chemische Industrie, nach der Autoindustrie der größte gewerbliche Investor in Deutschland, die zielt mit ihren strategischen Investitionen derzeit vor allem auf die expandierenden Märkte in Asien und Lateinamerika. In Deutschland lediglich Ersatzinvestitionen, keine nennenswerten Neuerungen. Das, meine Damen und Herren, soll kein Katastrophengemälde sein. Wenn ich in Katastrophen denken würde, wäre ich nicht in die Politik gegangen. Politik kann und muss immer wieder neu Weichen
stellen. Aber ich sage auch mit Blick auf die gleichzeitig stattfindende Pressekonferenz des Bundeswirtschaftsministers: Wir haben noch nicht wieder die notwendige Fahrt aufgenommen! Wer jetzt auf den Leitmärkten der Zukunft stagniert, fällt in einer entscheidenden Zeit unwiderruflich zurück.

Das, meine Damen und Herren, ist die Lage: Wir sind in der Defensive. Wir brauchen Investitionen und haben sie nicht. Deshalb dürfen wir nicht den Kopf in den Sand stecken und auf den Einzug des Frühlings hoffen, wie es die Bundesregierung tut, sondern wir müssen einsehen: Eine gezielte Wachstumspolitik ist weiterhin notwendig und deren oberstes Gebot lautet jetzt: Investitionen fördern!

Doch klar ist gleichzeitig: Wir können nicht wieder mit vollen Händen staatliches Geld ausgeben, wie das in der ersten Krisenphase nötig und möglich war. 1,7 Billionen Euro Staatsverschuldung sind eine Hausnummer, vor der selbst Guido Westerwelle die Augen nicht zukneifen kann!

In diesem Konflikt sagen wir: Erstens, wir müssen staatliche Handlungsspielräume erhalten und, wo notwendig, auch erweitern. Zweitens, wir fordern mit den Spielräumen, die wir erhalten, eine gezielte und effektive Wachstumspolitik für Investitionen. Jeder staatliche Euro, meine Damen und Herren, den wir jetzt in die Hand nehmen, muss sitzen – für den maximal möglichen Investitionseffekt!

Das ist der Anspruch! Geradezu grotesk wirkt da der Blick auf die schwarz-gelbe Regierungskoalition! Ein einziges wirtschaftspolitisches Exempel hat diese Bundesregierung bislang statuiert: das sogenannte „Wachstumsbeschleunigungsgesetz“. Diese Klientelgeschenke haben nichts zu Investitionen oder Wachstum beigetragen, aber die Handlungsfähigkeit von Ländern und Kommunen wesentlich geschwächt. Unbeirrt und völlig vorbei an aller wirtschaftlichen Notwendigkeit diskutiert Schwarz-Gelb weiter über sein
Prestigeprojekt: Steuersenkungen mit der Gießkanne und auf Pump. Das Steuerkonzept, das die FDP jetzt vorgestellt hat, würde Steuerausfälle in Höhe von 16 Milliarden Euro verursachen. Man kann das machen, man kann so handeln. Aber dann muss man sich auch offen zu den Folgen bekennen: Das sind 16 Milliarden, die Jahr für Jahr fehlen für Investitionsimpulse, für die Vorbereitung auf Zukunft!

Meine sehr geehrten Damen und Herren,
wir haben Ihnen heute ein Papier vorgelegt, in dem wir uns klar bekennen zu Wachstumspolitik und zu finanzpolitischer Nachhaltigkeit – beides ist notwendig.
Entschlossene Wachstumspolitik ist auch heute noch möglich, wenn wir
• industriepolitische Scheuklappen ablegen,
• staatliches Geld nicht an falschen Stellen mit falschen Absichten verschwenden
• staatliche Einnahmen stärken und ausbauen und insbesondere die Handlungsfähigkeit der Kommunen schützen

Wir haben ein breites Spektrum von Instrumenten: Es umfasst klassische Hebel wie verbesserte Abschreibungsbedingungen oder Investitionsanreize, wie wir sie z.B. mit dem CO2-Sanierungsprogramm in der Bauwirtschaft etabliert haben. Ziel muss es sein, die unvorstellbaren Größenordnungen von privaten Ersparnissen – Deutschland hat immer noch mit rund 11% eine weit überdurchschnittliche Sparquote! – von der reinen Geldvermögensanlage, von Spekulationen an den weltweiten Finanzmärkten, verstärkt auf die
Anlage in Sachvermögen im Inland, also in Investitionen in neue Technologien und Produkte, zu lenken.

Wir müssen aber weitergehen, wir wollen neue Instrumente nutzen.
Bund, Länder und Gemeinden geben jedes Jahr über 200 Milliarden Euro aus. Welche ungeheure Marktmacht kann die öffentliche Hand entfalten, welche unmittelbaren industriepolitischen Impulse kann sie setzen, wenn sie sich entscheidet, konsequent und auf allen Ebenen nach neuen, ökologischen Kriterien einzukaufen! Wenn sie selbst so bewusst und umweltbewusst einkauft wie es die Bürger auch tun! Bis zu 50 Milliarden Euro an Nachfrage für innovative Clean-Tech-Lösungen könnten so jedes Jahr ausgelöst
werden – ohne dass die öffentlichen Haushalte zusätzlich belastet werden.
Wir haben uns auch gefragt: Wie können wir effektive Anreize für Forschung und Entwicklung in der Wirtschaft geben? Unsere Analyse ist: Die direkte Forschungsförderung, die wir in Deutschland haben, erreicht nur einen kleinen Teil der Unternehmen und ist für viele Mittelständler nicht attraktiv. Deshalb wollen wir die Forschungsförderung durch Tax Credits ergänzen. Wenn wir hierfür dieselbe Größenordnung von Geld nutzen, das Schwarz-Gelb für das Mehrwertsteuerprivileg auf Hotelübernachtungen in
den Wind geblasen hat, können wir tatsächliche Investitionen und Innovationen in potenziell 35.000 Unternehmen in Deutschland stärken.

Außerdem sagen wir: Wir haben ein Instrument, das wir in der Krise aufgelegt haben, um die Investitionsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu erhalten: den „Deutschland-Fonds“. Der Fonds hat ein Volumen von 115 Milliarden Euro – davon 40 Milliarden Euro für Kredite. Doch nur wenig wurde davon bislang abgerufen. Wir wollen die vorhandenen Mittel besser nutzen, das Instrumentarium des Fonds erweitern und ihn zu einem „Zukunftsfonds Deutschland“ ausbauen.

Darin wollen wir zum Beispiel Risikokapital für Unternehmensgründer bereitstellen. Neue Ideen müssen den Durchbruch zum Markt schaffen. Gerade in dieser Phase hapert es in Deutschland oft an der Finanzierung – umso schlimmer in der momentanen Bankenkrise. Wir wollen neuen, jungen Unternehmen Wagniskapital zur Verfügung stellen, beispielsweise für neue Umwelttechnologien oder für clevere Energiedienstleistungen, die Ressourcen sparen helfen, oder für die rasant wachsenden Geschäftsmodelle in der
Kreativwirtschaft, rund um neuen Content im mobilen Internet. Das sind die industriepolitischen Impulse, die wir brauchen, um auf den Märkten von morgen nicht den Zug zu verpassen.

Sehr geehrte Damen und Herren,
wir sagen ein aber auch ein Weiteres: Es kann keinen Durchbruch für Investitionen in unserer Realwirtschaft geben, solange die Finanzmärkte nicht ihrer ureigenen Aufgabe nachkommen: nämlich diese Investitionen nachhaltig zu finanzieren.
Die Lage gut anderthalb Jahre nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers ist fatal: Kleine und mittelständische Unternehmen bekommen keine Kredite mehr, gleichzeitig missbrauchen Banker das billige Geld aus den Bankenrettungspaketen, um zu spekulieren. Die Deutsche Bank hatte 2009 einen Gewinn von 5 Milliarden Euro – 90 Prozent davon kamen aus dem Spekulationsgeschäft im Investmentbanking und Eigenhandel. Die Gewinnmargen sind hoch, weil das Geld so billig ist. 3,5 Milliarden Dollar Gewinn allein im
ersten Quartal 2010 verkündet Goldman Sachs voller Stolz am heutigen Tag. Und gleichzeitig wird aufgedeckt, dass dieselbe Bank auf die Verluste eines eigenen Fonds gewettet hat und auf diesem Weg Millionen einstrich, während die Anteilseigener des Fonds Totalverlust erlitten, darunter auch die deutsche IKB. Wir wollen wissen: Gab es oder gibt es solche oder ähnliche Vorgänge auch in Deutschland oder mit deutschen Banken? Wir fordern lückenlose Aufklärung von der Bundesregierung und wir fordern, wo
Fälle aufgedeckt werden, härteste Sanktionen!

Aber es geht nicht nur um Goldman Sachs. Es geht um ein System ohne Vernunft und ohne Verantwortung, das die Finanzmärkte dominiert hat und dessen Auswüchse uns immer aufs Neue alarmieren! Am Zug ist jetzt die Politik: Sie muss Grenzen ziehen, und schädliche Aktivitäten entweder einschränken oder verbieten.

In den USA hat sich Präsident Obama höchstpersönlich zur Speerspitze im Kampf um die Reform der Wall Street gemacht. Was tut die Kanzlerin? Sie versteckt sich hinter dem Argument, Maßnahmen könnten nur international umgesetzt werden. Würde jeder Regierungschef so argumentieren, dann gäbe es niemals Reformen. Wir brauchen Vorreiter und Führungspersönlichkeiten, die den Kampf mit den Lobbies der Finanzmärkte aufnehmen und im Interesse der Gesellschaft agieren. Unter sozialdemokratischer
Regierungsbeteiligung hat Deutschland die internationale Initiative zur Finanzmarktregulierung vorangetrieben. Die SPD wird weiterhin für eine grundlegende Reform der Finanzarchitektur kämpfen und sie tut dies – das hat Poul Nyrup Rasmussens Vortrag gezeigt – Seite an Seite mit der europäischen Sozialdemokratie!

Meine Damen und Herren,
ich habe die Herausforderungen, vor denen wir stehen, beschrieben. Sie sind einschneidend und akut. Die Regierung steckt den Kopf in den Sand. Aber „Augen zu und durch“ hilft nicht – das ist meine Überzeugung. Dafür ist das Ereignis dieser Krise zu bedeutend, zu einschneidend. Die Krise hat mehr ins Wanken gebracht als nur das Vertrauen in regellose Kapitalmärkte. Sie weckt grundlegendere Fragen: Sie stellt ein Wachstum infrage, das durch Spekulationen befeuert wird und dann in kürzester Zeit wie
ein Kartenhaus in sich zusammenfällt. Sie stellt ein Wachstum infrage, das durch den Raubbau an Ressourcen dem Wohlstand von morgen die Grundlage entzieht. Sie stellt ein Wachstum infrage, das wenige bereichert und immer mehr Menschen abhängt.
Deswegen kann es nicht unser Ziel sein, möglichst schnell und möglichst schmerzlos auf den Pfad des alten Wachstumsmodells zurückzukehren, das uns in die Krise geführt hat. Deswegen dürfen wir nicht zu bescheiden oder zu mutlos sein für die langfristige Perspektive. Wir müssen grundlegend hinterfragen, was uns eigentlich als Wert und Wohlstand gilt. Wir müssen die Ziele und Maßstäbe unseres Wirtschaftens neu definieren.
Ich habe bereits gesagt, dass diese Regierung keine Antworten auf die Krise hat. Sie zieht weder kurzfristig noch langfristig die richtigen Lehren. Das Schlimme ist aber: Sie stellt sich noch nicht einmal diesen Fragen.

Ich will, dass wir uns diesen Fragen widmen. Denn es reicht eben nicht aus, die Blessuren einer solchen Krise mit Pflastern und Gips zu verarzten, sondern wir müssen die systemische Frage stellen: Ist eigentlich der Organismus gesund?

Deshalb habe ich vorgeschlagen, eine grundlegende Diskussion darüber zu führen, wie wir nach der Krise eine neue Vision von Fortschritt entwickeln, die über die alten Maßstäbe des Wachstums hinausweist.

Politik darf sich in ihrem Tagesgeschäft der akuten Krisenbewältigung nicht genügen - auch nicht, wenn die amtierende Regierung allein damit schon überfordert ist. Wir wollen eine weiterreichende Debatte mit der Gesellschaft führen – und das Parlament bietet uns eine angemessene Plattform. Wir setzen uns gemeinsam mit der Fraktion der Grünen dafür ein, dass der Deutsche Bundestag in einer Enquete-Kommission die langfristigen Lehren aus der Krise diskutiert. Gemeinsam mit Gesellschaft und
Wissenschaft wollen wir ein neues Fortschrittsbild entwerfen, das der heutigen Wirtschaftsdoktrin einen neuen Maßstab entgegenstellt.

Dazu müssen zuallererst einmal den Kompass hinterfragen, der seit Jahrzehnten zum Maßstab der Wirtschaftspolitik geworden ist. "Das Bruttoinlandsprodukt misst alles, nur nicht das, was das Leben lebenswert macht", sagte Robert Kennedy 1968. Der Zustand der Umwelt, das Niveau von Gesundheit und Bildung, aber auch soziale Teilhabe und Zugang zu Arbeit - all das erfasst das BIP nicht. Doch Wohlstand ist mehr als ein voller Kühlschrank. Und gesellschaftlicher Reichtum ist mehr als die Summe aller Bankkonten.
In einer Fortschritts-Enquete wollen wir diskutieren, wie wir dem BIP einen ganzheitlichen Fortschrittsindikator entgegenstellen können. Das soll keine akademische Trockenübung sein. Im Gegenteil: Ich bin überzeugt, dass das dies ein entscheidender erster Schritt auf dem Weg zu einer neuen, nachhaltigen Wirtschaftsweise sein muss. Denn Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft sind wie Seefahrer, die für ihren Kurs auf einen möglichst verlässlichen Kompass angewiesen sind. Die Qualität ihrer
Entscheidungen hängt davon ab, was ihr Kompass misst und wie akkurat er es misst. Wenn wir unseren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kurs verbessern wollen, dann brauchen wir zuallererst einen neuen Kompass.
Ich möchte, dass wir gemeinsam auch in dieser Zukunftswerkstatt an einer neuen Vision von Fortschritt weiterarbeiten. Politik im Allgemeinen muss einer Vision von Fortschritt folgen, erst recht aber sozialdemokratische Politik! Eine neue Fortschrittsvision gehört in das Pflichtenheft einer sozialdemokratischen Volkspartei, die ein politisches Angebot für die ganze Gesellschaft machen will, ein Angebot, in dem Arbeit, Wirtschaft, Bildung und Teilhabe als eine integrierte Aufgabenpyramide begriffen werden.
Mit unserem Impulsprogramm für Investitionen wollen wir diesem Anspruch auch in der kurzfristigen Krisenbewältigung gerecht werden. Aber das ist nur ein Anfang. Wir wollen unsere Vision von Fortschritt weiterentwickeln, ausdifferenzieren und daraus eine klare, ganzheitliche wirtschaftspolitische Programmatik schaffen. Sigmar Gabriel und ich laden Sie herzlich ein, daran mitzuwirken, und ich freue mich nach dieser erfolgreichen Konferenz auf die weiteren Diskussionen mit Ihnen allen!