Fortsetzung Rede Peer Steinbrück

Veröffentlicht am 09.12.2012 in SPD Bundesparteitag aktuell

Es gibt weitere Themen, die der Rede wert sind, aber es wird viele Gelegenheiten geben, mehr und weiter zu reden, insbesondere über Integrationspolitik. Ich überspringe den Hauptteil.

Es gibt zwei Briefe - um zum Schluss ein bisschen was über mich selber zu erzählen, Genossinnen und Genossen -, die mir bis heute Richtschnur sind und die mich sehr gefangen genommen haben. Der eine wurde im März 1945 geschrieben und der andere im Sommer 1948. Beide Briefe stammen von meinen beiden Großvätern.

Der erste Brief stammt von meinem Großvater väterlicherseits, kurz bevor er von Nazi-Schergen in der Nähe von Stettin umgebracht wurde, weil er sich Befehlen widersetzte, eine Volkssturm-Einheit gegen russische Panzer zu führen. Wir haben nie herausgekriegt, wo er begraben ist. Es war ein Abschiedsbrief.

Der zweite Brief wurde von meinem Großvater mütterlicherseits geschrieben, der sich drei Jahre nach dem Krieg mit der Hitlerzeit auseinandersetzte und sich sehr hellsichtig mit der Zukunft Deutschlands nach zwei Weltkriegen, an denen er teilgenommen hatte, auseinandergesetzt hat.

Aus beiden Briefen sprach eine Haltung, die deutlich machte, dass wir für unser Tun, aber eben auch für unsere Unterlassungen Verantwortung tragen, die niemals nur uns selber, sondern immer auch andere betreffen. Sie drückten es in diesen beiden Briefen ganz anders aus, aber im Kern ging es darum, dass wir gesellschaftliche Wesen sind, verankert in einer Gemeinschaft und verantwortlich dafür, was in unserer Gesellschaft passiert oder eben auch nicht passiert und daher schiefzulaufen droht oder möglicherweise in Katastrophen endet.

Wenn man so will, haben mich diese beiden Briefe das erste Mal der Politik nahe gebracht.

Als ich nach einer katastrophalen Schulkarriere, die mich erst mit einiger Verzögerung in die Oberstufe brachte, eine Lehrerin traf, war dies ebenfalls beeindruckend. Das war eine Geschichts- und Englischlehrerin, und es war Mitte der 60er-Jahre. Sie war nicht nur klug, - 21 – sondern sie konnte auch vermitteln. Sie setzte sich für Bildung und selbstbewusste Staatsbürger ein, und zwar völlig egal, aus welchem Elternhaus sie kamen. Sie sagte, ohne Bildung keine Ideen und ohne Ideen kein Fortschritt. Das war ihr Credo. Und sie war eine sehr selbstbewusste Frau in einer gemischten Klasse von Schülerinnen und Schülern – wie ich sagte, Mitte der 60er-Jahre – und die dieses Selbstbewusstsein als Frau auch übertrug – insbesondere auf meine Mitschülerinnen. Das war nicht immer ganz einfach für mich.

In der Zeit leitete ich eine Schülerzeitung, die sich politisch verstand. Das war die Entwicklung vor 1968. Das traf bei einigen Lehrern auf einen deutlichen Unmut. Sie war es, diese Lehrerin, zusammen mit einem Kollegen, die mein politisches Interesse förderten und gegen den Widerstand des gesamten restlichen Kollegiums auf einer Abiturfeier, auf der ich übrigens meine erste öffentliche Rede gehalten habe zusammen mit einem Kollegen gegen den Willen des Kollegiums einen Buchpreis überreicht, der mich darin bestärken sollte, mich weiterhin einzumischen – was mich in der Tat bestärkt hat.

Monate später war ich auf der Stube einer Bundeswehr-Einheit in Oldenburg in Oldenburg der einzige Abiturient und traft das erste Mal mit der gesamten Bandbreite sozialer Herkünfte zusammen. Das war nicht so dumm für jemanden wie mich, der vorher nicht in der Bandbreite mit sozialen Herkünften zusammenkam. Auch deshalb bin ich ein Anhänger eines Freiwilligendienstes.

Der verlässlichste Kumpel in der Zeit übrigens – daran werde ich mich immer erinnern – ist ein Hamburger Maurergeselle gewesen, den ich seit 1996 nie wieder gesehen habe, aber nicht nur dessen Name, sondern dessen Charakterstärke mir bis heute sehr präsent ist.

Das war auch der Zeitpunkt – 1969 -, als ich in die SPD eintrat, übrigens in Oldenburg in Oldenburg, nicht so weit von Osnabrück weg. Dazwischen ist noch Quakenbrück, wie ich weiß. Ich kenne das da alles.

Die Gründe waren, dass die SPD nie auf der falschen historischen Seite gestanden hat, sondern immer für die Rechte und die Würde des Einzelnen eingetreten ist. Mir ging die konservativ-bürgerliche Selbstgewissheit auf den Senkel, wer in dieser Gesellschaft etwas gilt und in der Selbstgerechtigkeit dieser Konservativ-Bürgerlichen darüber immer bestimmte, wer denn in ihrem Urteil nach Herkunft und Können Bestand hat und wer nicht. Die bildeten sich immer ein, dies beurteilen zu können. Diese Art des Umgangs in einer Gesellschaft geht mir maßgeblich gegen den Zeiger. Dazu gehört es dann auch, dass die Diffamierung von Willy Brandt als Exilant und als unehelich Geborenem in diese Rille dieses bürgerlichen Bewusstseins hineinfiel.

Natürlich spielte das Charisma von Willy Brandt eine erhebliche Rolle, wie nicht weniger die überzeugende Position der SPD mit Blick auf die Teilung Deutschlands und Europas. Egon Bahr wurde mir das erste Mal ein Begriff in dieser Zeit. Und die Lebenslügen der sehr chauvinistischen Kräfte in der CDU/CSU waren mir ein absolutes Gräuel.

1971 habe ich unter keiner Wahlniederlage - oder ich will vorsichtiger sagen: unter fast keiner Wahlniederlage – mehr wieder so gelitten wie derjenigen von Jochen Steffen gegen Stoltenberg. Das könnt ihr euch nicht vorstellen! Ich weiß nicht, ob Eckart Kuhlwein im Saal ist. Das hätte er mir nie zugetraut, dass diese Wahlniederlage von Jochen Steffen mich in eine tiefe Depression in Kiel gejagt hat.

1972 war dann der Triumphpunkt – nie zu vergessen -, aber irgendwann merkte ich auch, dass es in der Politik nicht auf das Gutgemeinte ankommt, sondern auf das Gutgemachte, auf das Gutgemachte in einer sittlichen Überzeugung. Das ist der Grund, warum Helmut Schmidt eines meiner großen Vorbilder wurde, der in der schwierigen Zeit nach der Ölpreiskrise und im Herbst des deutschen Terrorismus diese Politik aus einer sittlichen Überzeugung in Deutschland betrieben hat.

1977 wurde ich Persönlicher Referent von Hans Matthöfer im Bundesministerium für Forschung und Technologie und lernte in ihm einen Mann von einer außergewöhnlichen Integrität kennen, mit einer sehr starken sozialdemokratischen Kompassweisung, sehr stark verankert in der Gewerkschaftsbewegung. Ein fantastischer Mann, dem ich bis zu seinem Tod im September 2009 sehr viel zu verdanken habe.

Ich bin zutiefst überzeugt - aus dieser Entwicklung, liebe Genossinnen und Genossen -, dass das Schicksal des Einzelnen und unserer Gesellschaft nicht fremdbestimmt ist. Du kannst es selbst in die Hand nehmen. Sozialdemokraten helfen dir, deine Chance zu ergreifen. Das ist gelebte Solidarität: In der Gesellschaft, im Erwerbsleben und in Bildung und Ausbildung. Dieses Versprechen persönlicher Freiheit einzulösen und den Menschen die Chance zu geben, nach ihrem Glück zu streben, das ist mein Ziel, das ist unser gemeinsames Ziel.

Freiheit ist aber nicht grenzenlos. Sie endet dort, wo sie die Freiheit anderer einschränkt.

Sie erfordert deshalb zwischenmenschliche Loyalität. Sie verlangt Respekt, übrigens im wirklichen Leben genauso wie im World Wide Web.

Freiheit ist eine soziale Aufgabe. Sie entsteht nur dort, wo nicht Egomanie und Rücksichtslosigkeit herrschen, sondern Gemeinsinn und Gemeinwohl. Helmut Schmidt spricht von der Salus publica. Und das gilt auch für die Freiheit der Märkte.
Wir sind Verfechter der sozialen Marktwirtschaft. Wir sind Verfechter eines gebändigten Kapitalismus, der sich aber von dem Raubtierkapitalismus unterscheidet, wie ihn Helmut Schmidt bereits Ende der der 90er-Jahre beschrieben hat. In dieser Überzeugung stehe ich heute vor euch, um der Kandidat unserer stolzen Partei für die nächste Bundestagswahl zu werden.

Ich kann und ich will euch versprechen: Ich will mit eurer Hilfe und den Stimmen der Wählerinnen und Wähler Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland werden.

Ich will eine rot-grüne Mehrheit für dieses Land.

Ich stehe für eine Große Koalition nicht zur Verfügung.

Ich will, dass Deutschland wieder ein neues soziales Gleichgewicht findet.

Ich will Veränderung statt Stillstand und Entpolitisierung.

Dafür werde ich mich einsetzen; dafür trete ich an.

Liebe Genossinnen und Genossen, unser Weg nach Hannover war kein Spaziergang. Er war steinig, mühsam und auch mit Zumutungen gepflastert.

Meine Vertragshonorare waren Wackersteine, die ich in meinem Gepäck und leider auch euch auf die Schultern gelegt habe. Ich danke euch, dass ihr mit mir diese Last getragen und ertragen habt.

Ich habe nicht nur Kritik – das auch –, sondern auch viel Solidarität erfahren – nicht nur aus euren Reihen, aber vor allen Dingen aus euren Reihen, und zwar mehr, als ich glaubte, erwarten zu dürfen. Das hat mich berührt; das werde ich nicht vergessen.-

Ich werde auch nicht vergessen, wie du, liebe Andrea, mich im Willy-Brandt-Haus aufgenommen hast. Deine Unterstützung ist mir sehr wichtig. Es gibt sogar in der Politik das beglückende Gefühl, dass manchmal Menschen zueinander finden, denen andere das nie zugetraut hätten.

Die SPD war und ist eine „Wir“-Partei. Uns geht es um das Miteinander; denn wir wollen, dass diese Gesellschaft wieder Maß, Mitte und eine gemeinsame Richtung findet. Wir machen unsere Politik mit Maß und Ziel und in eine Richtung. Unser Maß ist die Balance zwischen ökonomischer Kraft und der Würde des Menschen. Unser Ziel ist eine gerechtere, von Gemeinsinn und Gemeinwohl geprägte Gesellschaft. Unsere Richtung weist in eine moderne, aufgeklärte Gesellschaft.

Stehen wir zu unseren Traditionen, aber bewegen wir uns auf der Höhe der Zeit! Vertrauen wir uns selbst, dann werden andere uns auch vertrauen. Es ist Zeit für einen Wechsel!

Es ist Zeit für einen Wechsel, zuerst hier in Niedersachsen. Glück auf, Stephan Weil! Du wirst es packen und eine grandiose Vorlage liefern.

Nach der dritten Hochrechnung am 20. Januar sieht die politische Landschaft in Deutschland anders aus.

In Bayern kämpft Christian Ude darum, das große deutsche Irrlicht der Politik, nämlich Herrn Seehofer, aus dem Sattel zu werfen.

Dann liegt es an uns allen gemeinsam, die derzeitige Bundesregierung abzulösen und in die Rehabilitation zu schicken.

Das bringt dann nicht nur Hessen, sondern das bringt auch Hessen mit Thorsten SchäferGümbel nach vorn.

Genossinnen und Genossen, es ist ein weiter Weg, und wir werden über Steine gehen müssen. Aber auch die längste Reise, so sagt Laotse, beginnt mit dem ersten Schritt. Den wollen wir heute gemeinsam tun. Das Signal von Hannover lautet: „Wann wir schreiten Seit‘ an Seit‘“. Dann werden wir es packen!

Ich danke euch.